Bürgermeister Ludwig Paffler betrachtete kopfschüttelnd den vor ihm liegenden Brief. Er war bei Gott kein Genie der deutschen Sprache, nie gewesen, aber das, was Tini hier zu Papier brachte, war ja noch schlechter als alles, was er selbst je abgeliefert hatte.
Wehrte Kolegin,
las er da. Das fing ja gut an. Selbst wenn er jetzt die ärgsten Fehler ausbesserte, hieß das noch lange nicht, dass er den Brief abschicken konnte. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als die Gemeindekorrespondenz in nächster Zeit in seiner Baufirma schreiben zu lassen. Seine Sekretärin war es gewohnt, seine stichwortartig hingeworfenen Inhalte in wohlklingende Sätze zu kleiden. Das konnte natürlich nur eine Übergangslösung sein. Er musste sich wohl oder übel eine neue Sekretärin fürs Gemeindeamt suchen.
Schade. Tini war ein liebes Mädel, stets bemüht, es allen recht zu machen. Leider gelang ihr das höchst selten – zumindest nicht auf dem Gemeindeamt.
Dieser Brief war besonders heikel. Er richtete sich an die neue Bürgermeisterin der Großgemeinde Stettenkirchen, Irma Duscher.
Bisher kannte er sie nur flüchtig von dem Telefonat, in dem er ihr die Sache mit dem Seniorenheim hatte schmackhaft machen wollen. Er hätte ihr die Details dazu zwar lieber persönlich erklärt, aber die Gnädigste bestand auf einem Schreiben, das sie dem Gemeinderat vorlegen konnte.
Offenbar versuchte sie, dem ihr vorauseilenden Ruf gerecht zu werden. Es hieß, sie sei überheblich und ihrem Vater nicht unähnlich. Ulrich Duscher war in der Gegend nicht sonderlich beliebt, angeblich war er ein Schlitzohr, jedenfalls ein beinharter Geschäftsmann. Ihm gehörten der Steinbruch, einige Schotterteiche und ein Fuhrwerksunternehmen. Ludwig hatte schon öfter mit dieser Firma zu tun gehabt. Dabei war immer alles korrekt abgelaufen, also hatte er bisher nicht viel auf das Geschwätz gegeben.
Sein Schwager Anton meinte allerdings auch, die neue Frau Bürgermeisterin sei zwar eine Hübsche, aber auch eine Hantige, mit der nicht gut Kirschen essen sei. Auf Antons Meinung gab Ludwig schon mehr, schließlich hatte der seine Schwester Traudl geheiratet. Mit den Hantigen kannte er sich also bestens aus.
Ludwig besserte die gravierendsten Rechtschreibfehler aus und überflog das Schreiben noch einmal. Er fand, es stand alles drin, was drinstehen sollte, aber sicher fehlten wieder ein paar Blümchen rundherum, wie er das gerne nannte. Seine Frau Liesl hatte neulich gesagt, er fiele immer mit der Tür ins Haus. Möglich. Er redete ja sonst auch nicht um den heißen Brei. Also würde er Liesl das Schreiben vorab lesen lassen. Während er es in seiner Aktentasche verstaute, spielte sein Smartphone die Elisabeth-Serenade.
Er hob ab und sagte launig: „Geliebtes Eheweib, was gibt’s Neues zur Mittagsstunde?“
„Leider keine frohe Kunde. Ich habe soeben Tante Wetti ins Krankenhaus einweisen lassen müssen. Lungenentzündung.“
„War sie etwa bei dir in der Praxis?“ Seine Tante war bekannt dafür, dass sie um Ärzte einen weiten Bogen machte.
„Dazu wäre sie gar nicht mehr in der Lage gewesen. Traudl hat mich verständigt. Sie hat mit ihr telefoniert und war etwas beunruhigt, weil eure Tante so kurzatmig war und auch stark hustete. Da niemand von uns einen Schlüssel hat, haben wir Steffi, ihre Nachbarin, angerufen. Die hat mich ins Haus gelassen. Ich kann nur sagen, es war höchste Zeit.“
„Aber warum hat Tante Wetti nicht wenigstens Traudl angerufen?“
„Gute Frage, ich kann sie nur leider nicht beantworten. Sagst du deinen Eltern Bescheid?“
„Kann ich machen, aber ich glaube, du als Ärztin …“
„Schon gut. Ich fahr nachher vorbei. Also dann, bis später.“
„Was gibt’s denn heute zum Abendessen?“
„Das musst du Anna fragen, sie hat heute den Küchendienst übernommen.“
Das war keine schlechte Nachricht. Seine Stieftochter Anna war in der Küche recht talentiert und tauschte alle möglichen Verpflichtungen gerne gegen Küchendienste ein.
„Na wunderbar, dann hast du vielleicht noch Zeit, den Brief an die Kollegin aus Stettenkirchen durchzulesen.“
„Geht’s um das Projekt Seniorenhaus?“
„Ganz genau.“
„Dann mach ich es besonders gerne. Ich kenne mehr als einen Waldstettener, der darin besser aufgehoben wäre, als allein daheim.“
„Du meinst jetzt aber nicht meine Eltern?“
„Zumindest nicht ausschließlich, aber darüber reden wir am Abend. Mach’s gut.“
„Du auch“, murmelte Ludwig. Er wusste Liesls Sorge um seine Eltern durchaus zu schätzen, doch in diesem Fall übertrieb sie einfach. Es mochte ja sein, dass seine Mutter manchmal etwas zerstreut wirkte, aber so schlimm war es nun wirklich nicht. Erst gestern Mittag hatte er bei ihr ein erstklassiges Gulasch gegessen. Und Vater war schließlich auch noch da.
*
„Ich gebe ja gerne zu, dass Tini im Gemeindeamt eine Fehlbesetzung ist, aber wenn sie nicht mehr da ist, müssen wir uns für deine Eltern etwas einfallen lassen“, sagte Liesl, nachdem sie die ersten Zeilen des Briefes gelesen hatte.
Ludwig sah sie nur fragend an, also fuhr Liesl fort: „Wusstest du, dass sie abends gemeinsam mit deiner Mutter kocht?“
„Tini und Mutter? Wozu soll das gut sein?“
„Deine Mutter wird dir zwar erzählen, dass es zu zweit mehr Spaß macht. Die Wahrheit ist, dass sie es allein nicht mehr kann. Was meinst du, warum wir seit Wochen nicht mehr bei deinen Eltern zum Sonntagsessen eingeladen waren?“
Ludwig überlegte. „Na ja, erst war Mutter verkühlt, dann haben wir die ganze Familie in den Goldenen Stern eingeladen, danach …“
„Dann haben deine Eltern ins Restaurant eingeladen. Warum wohl?“
„Weil Vater neuerdings so versessen ist auf serbischen Karpfen und meine Mutter es ablehnt, zu Hause Fisch zu braten?“
Liesl nickte. „Das ist die Version deiner Mutter.“
„Solange sie schlau genug ist, solche Ausreden zu erfinden, kann’s ja noch nicht so schlimm sein.“
Liesl legte ihre Hand auf seinen Arm. „Ich weiß, dass du es nicht hören willst, aber es ist bekannt, dass Patienten mit einer beginnenden Demenz lange Zeit alle möglichen Erklärungen für ihre Handlungen erfinden. Das ist sogar ein ziemlich häufiges Merkmal.“
„Ah ja“, sagte Ludwig nur und machte sich von ihrer Hand frei, um eine Flasche Wein zu holen.
„Kommenden Sonntag sind wir übrigens alle bei Annabell zum Essen, offiziell, weil Konrad Geburtstag hat“, rief Liesl ihm nach.
„Und inoffiziell?“, fragte Ludwig, als er mit der Weinflasche und zwei Gläsern zurückkam.
„Inoffiziell, weil sie auch weiß, wie es um deine Mutter bestellt ist.“
Wortlos öffnete er die Flasche und schenkte die Gläser voll. Dann erst fragte er: „Und was machen wir jetzt?“
„Wann endet Tinis Probezeit?“
„In knapp zwei Wochen.“
„Könntest du die nicht verlängern? Zumindest, bis du jemanden gefunden hast?“
Ludwig dachte nach. „Na ja, könnte ich schon. Im Grunde ist es jetzt schon ein befristetes Arbeitsverhältnis gewesen.“
„Dann würde ich vorschlagen, du schenkst Tini reinen Wein ein, bietest ihr aber gleichzeitig eine befristete Verlängerung an. Dann kannst du dich in der Zwischenzeit umsehen, Tini auch, und vielleicht sehen wir in einigen Wochen klarer, wie es mit deiner Mutter weitergeht. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um deinen Brief.“
Schon nach kurzer Zeit schob sie das Blatt zur Seite, sah ihn mit einem spitzbübischen Lächeln an und sagte: „Ich bin ja nicht so intensiv mit diesem Thema befasst, aber kannst du mir bitte mit einfachen Worten erklären, was genau du mit diesem Schreiben sagen wolltest?“
„So schlimm?“
„Nicht gerade schlimm, nur für mich eben unverständlich“, versuchte sie eine Erklärung. Sie war schon überzeugender gewesen.
Ludwig räusperte sich. „Also gut. Womit fange ich an? Vielleicht mit dem Gemeindeverband?“
„Vielleicht solltest du erst die Dringlichkeit eines Seniorenheimes für die Region erwähnen und erst dann deine Idee mit dem Gemeindeverband beschreiben?“
„Aber das habe ich der Fiffi doch schon alles am Telefon erzählt.“
„Trotzdem würde ich es erwähnen, sie will dein Schreiben schließlich dem Gemeinderat vorlegen.“
„Ich weiß. Weil sie zu faul ist, es selbst zu formulieren. Eigentlich finde ich das eine Frechheit. Warum muss ich mich mit dem blöden Brief herumquälen? Es ist doch ihr Gemeinderat. Mit meinem ist alles vorbesprochen. Nur die Einigung auf ein Grundstück steht noch aus.“
Liesl grinste. „Du führst dich gerade auf wie Anna, wenn sie ein Literaturreferat vorbereiten muss. Es ist doch nur ein Brief.“
„Du hast gut reden“, murmelte Ludwig. „Wahrscheinlich hattest du in Deutsch immer ein ‚Sehr gut‘.“
„Was denn sonst“, zwinkerte sie ihm zu.