Leseprobe Ach, Gisela

 

  1. Ein Winterabend

 

Gisela Wogner nahm ihre Lesebrille ab und schloss für einen Moment die Augen. Früher hatte sie oft bis Mitternacht gearbeitet, jetzt war sie schon nach wenigen Stunden hundemüde.

„Ich mache für heute Schluss“, verkündete sie und lenkte ihren Rollstuhl in Richtung Aufzug.

Ihr Stiefsohn Andreas sah kurz auf und murmelte: „Danke, dass du heruntergekommen bist“.

Sie betrachtete seine müden Gesichtszüge. Klar war sie gekommen. Wer sollte ihm denn sonst helfen? Vor seinem Schreibtisch hielt sie an. „Ich dachte, du gehst heute früher?“

„Mach ich“, murmelte er, ohne aufzusehen.

Gisela schüttelte unmerklich den Kopf. Sie wusste ja, dass er gern die Zeit vergaß, wenn er sich wohlfühlte – und in seinem Büro fühlte er sich definitiv wohl. Besser, sie legte noch etwas nach.

„Wann ist denn dein Termin? Um Mitternacht?“

Jetzt erst sah er auf die Uhr. „Oh, schon so spät? Du hast recht, ich muss los, treffe mich gleich mit den Kollegen Leitner und Hausner.“

„Dann geht es ja doch wieder um Immobilien.“

„Mehr oder weniger. Ein wenig über die Branche tratschen und dabei besprechen, wie es im Verband weitergehen soll. Dieses Jahr wird ein neuer Präsident gewählt, da wollen wir …“

„Wählt dieses furchtbare Weib endlich ab“, fiel sie ihm ins Wort. „Die vertritt keine Brancheninteressen, die vertritt bestenfalls ihre eigenen.“

„Man sollte doch meinen, die wären ident.“

„Sind sie aber nicht, das wissen wir beide – und nicht erst seit gestern.“

„Stimmt, leider.“

„Dann macht endlich Nägel mit Köpfen.“

Andreas nickte und sagte mit unüberhörbarer Ironie: „Ich werde es den werten Kollegen selbstverständlich ausrichten. Soll ich ihnen auch einen Wahlvorschlag übermitteln?“

„Das werdet ihr hoffentlich selbst wissen.“ Sie hielt kurz inne und sah ihn prüfend an: „Denkst du etwa daran, das Amt zu übernehmen?“

„Nicht unbedingt, aber …“

„Solange du hier keinen geeigneten Stellvertreter hast, wäre das auch nicht besonders klug“, unterbrach sie ihn neuerlich. „Die Arbeit wird ständig mehr und immer komplizierter – bei gleichbleibendem Honorar. Da sollte der neue Präsident ansetzen!“

„An dem Thema haben sich schon einige Präsidenten versucht. Du weißt doch aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, damit in der Politik durchzudringen. Als Wählergruppe ist unser Berufsstand ebenso uninteressant wie die von uns vertretenen Hauseigentümer. Es gibt schlicht und ergreifend mehr Mieter als Vermieter.“

Sie winkte ab. „Ist mir bekannt. Leider brauchen wir trotz allem einen zusätzlichen Verwalter.“

Er nickte. „Woher nehmen? Du weißt ja, was wir schon alles versucht haben. Vom Headhunter bis zu Posts auf Instagram haben wir nichts ausgelassen. Wahrscheinlich hätten wir den Sohn des Kollegen, der nur Teilzeit arbeiten wollte, doch einstellen sollen.“

„Ich bitte dich, dieser Faulpelz wollte gerade einmal 25 Stunden pro Woche arbeiten. Abgeschlossenes Studium, unverheiratet, keine Kinder, keine sonstigen Betreuungspflichten, das ist … das ist doch … da fehlen mir die Worte.“

„Hört, hört.“

„Na, ist doch wahr. Erst um Steuergeld ewig studieren und dann nichts beitragen wollen, das ist doch unverschämt! Da kann ich mich so was von aufregen.“

„Du sollst dich aber nicht aufregen. Dein Blutdruck steigt und der junge Mann arbeitet deswegen keine Stunde mehr.“

Er hatte ja recht, das musste sie insgeheim zugeben. Also nickte sie nur kurz. „Ja, ja. Sieh zu, dass du nicht wieder zu spät kommst.“

„Aye, aye, Frau Kapitän.“

„Schafskopf“, murmelte Gisela, dann setzte sie ihren Weg fort.

***

Andreas sah ihr nach. Seine Stiefmutter wurde heuer 85, doch ihr Faible für grelle Farben hatte sie behalten, ihre Zunge war immer noch messerscharf und ihr Verstand stand der Zunge um nichts nach. Wenn ihre Wortwahl auch nicht sonderlich diplomatisch war, so hatte sie in der Sache doch oft recht.

Das Personalproblem wurde von Jahr zu Jahr schlimmer und die jetzige Präsidentin war tatsächlich kein Gewinn für den Verband. Damals hatte alles für die Wahl von Carola Witzmann gesprochen. Sie schien kompetent zu sein, war eine erfolgreiche Geschäftsfrau und nie um eine Antwort verlegen. Außerdem war sie die erste Frau an der Spitze des Verbandes und sah noch dazu gut aus. Schade, sie hatten sich mehr von ihr erwartet.

Was den zusätzlichen Verwalter betraf, so hatte Gisela zwar ebenfalls recht – doch plante er etwas anderes. Davon würde er ihr allerdings erst erzählen, wenn die Sache konkret war. Sie würde ohnehin nicht begeistert sein.

Er traf sich heute Abend mit den Kollegen nicht nur, um über die Verbandspräsidentin zu schwadronieren, er wollte eine Kooperation eingehen. Zeit, dass er sich auf den Weg machte.

Bis Gisela sich in ihrer Wohnung im ersten Stock einen kalten Imbiss hergerichtet hatte, war sie vollkommen erschöpft. Ihre Rückenschmerzen wurden täglich schlimmer. Wenn es nach Andreas ging, säße hier längst eine Pflegerin herum. Das fehlte ihr gerade noch. Vor diesem dummen Sturz war sie doch noch gut zurechtgekommen und wenn ihre Physiotherapeutin recht behielt, sollte alles bald wieder so sein wie früher.

Darauf wartete sie allerdings schon ein halbes Jahr, und wenn deren Bemühungen nicht bald Früchte trugen, musste sie wohl oder übel auf das Angebot ihres Orthopäden, sie an der Wirbelsäule zu operieren, ebenso eingehen wie auf Andreas’ Vorschlag, eine Hilfe zu engagieren. Das Wort Pflegerin vermied sie.

Beides wollte sie so lang wie möglich hinausschieben – man wusste doch nie, wie so eine Operation ausging. Sie war schließlich nicht mehr die Jüngste. Dabei hatte sie weniger Angst vor dem Sterben – sie hatte ihr Leben gelebt – sie hatte Angst, nach der Operation erst recht auf Hilfe angewiesen zu sein.

Schon deshalb wollte sie im Vorfeld noch einiges erledigen.

Gleich morgen würde sie den Anwalt anrufen und einen Termin vereinbaren. Nach Herberts unerwartetem Tod war sie erst unfähig gewesen, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch der unerquickliche Auftritt seiner Tochter Luisa am zweiten Weihnachtsfeiertag hatte sie gleichsam aufgeweckt. Nun wusste Gisela, was zu tun war – sie würde ihr Testament ändern.

Da Giselas langjähriger Anwalt seit Kurzem in Pension war, musste sie sich einmal mehr mit dessen Nachfolger herumschlagen, was ihre Laune kaum verbesserte. Wie hieß er doch gleich? Obwohl ihr der junge Mann nun schon einige Zeit bekannt war, konnte sie sich seinen Namen nicht merken. Verflixt, ihr Namensgedächtnis war doch früher ganz gut gewesen. Egal, sie würde einfach Herr Doktor sagen – wobei auch das nicht mehr stimmen musste, neuerdings hatten sie ja ganz seltsame Titel.

Gisela empfing den Anwalt in ihrer Wohnung, dennoch hielt sie sich nicht mit langen Vorreden auf.

„Wie Ihnen bekannt sein dürfte, hat mein Mann sein Vermögen zu gleichen Teilen seinem Sohn Andreas, seiner Tochter Luisa und mir vermacht.“

Der Anwalt nickte. „Er hat kein Testament hinterlassen, demnach ist die gesetzliche Erbfolge eingetreten. Ich nehme an, das hat Sie nicht sonderlich überrascht.“

„Wir haben nie darüber gesprochen, wir hatten ja Gütertrennung, aber ja, ich habe mit etwas Ähnlichem gerechnet. Ich hingegen habe seit Langem ein Testament und genau das muss ich nun ändern. Da mein Mann als Erbe nicht mehr infrage kommt, möchte ich Andreas zum Alleinerben machen.“

Der Anwalt machte sich eine Notiz.

„Da Luisa nur meine Stieftochter ist, nehme ich an, dass rechtlich nichts dagegenspricht“, ergänzte Gisela.

Der Anwalt nickte zustimmend. „Das ist absolut richtig. Nur der guten Ordnung halber gebe ich zu bedenken, dass der größere Teil des Vermögens in Ihren Händen liegt.“

„Sie werden es nicht glauben, das ist mir bekannt.“

„Vielleicht wollen Sie darüber hinaus das eine oder andere Legat aussetzen?“

„Gute Idee. Ich könnte Luisa die hässliche Brosche, die sie mir zum 70. Geburtstag geschenkt hat, überlassen und die grauslichen Vasen, die sie stets aus dem Urlaub mitgebracht hat, gleich dazu.“

Der Anwalt lächelte pflichtschuldigst, ging darauf aber nicht näher ein, also fuhr Gisela fort: „Bei meinem Stiefsohn Andreas weiß ich das Erbe in guten Händen, zumindest soweit es die Immobilien betrifft. Ob er die Antiquitäten zu schätzen weiß, die ich von meiner Tante Gusti geerbt habe, ist eine andere Frage. Für ihn ist das vermutlich alles nur alter Krempel.“

„Wie gesagt, Sie könnten einzelne Stücke ebenso als Legat aussetzen wie Bargeld und Ähnliches.“

Gisela nickte.

„Es wäre hilfreich, wenn wir in einem solchen Fall Fotos der jeweiligen Objekte hätten. Vielleicht könnte Ihre Schwiegertochter diese anfertigen?“

Gisela rückte ihre Lesebrille zurecht, machte sich eine Notiz und erwiderte kurz: „Das könnte sie.“

Mona war zwar nie die Frau gewesen, die Gisela sich für Andreas gewünscht hatte, fotografieren konnte sie immerhin. Vielleicht würde sie sogar das eine oder andere Stück aus Giselas Vitrine eher zu würdigen wissen als Andreas.

„Wollen Sie für Ihren Enkel Tobias auch ein Legat aussetzen?“

„Gute Idee. Im Keller müssten noch zerrissene Jeans von meinem Mann sein, die könnten ihm gefallen.“

Da der Anwalt sie etwas konsterniert ansah, setzte sie hinzu: „Außerdem existiert ein Wertpapierdepot auf den Namen des Klugscheißers und die Dachgeschosswohnung hier im Hause bekommt er auch.“

„Ich dachte, in der Dachgeschosswohnung wohnt Ihre Schwiegertochter?“

„Ja, und?“

„Soll deren Wohnrecht im Falle Ihres Ablebens gewahrt bleiben?“

Gisela dachte kurz nach, dann nickte sie. „Von mir aus soll sie hier wohnen bleiben. Tobias kann dann ja meine Wohnung haben.“

„Soll das ebenfalls vertraglich vereinbart werden? Schließlich wird Ihr Stiefsohn Eigentümer des Hauses.“

„Das werden sich die drei schon ausmachen.“

„Zur Absicherung Ihres Enkels und Ihrer Schwiegertochter könnten Sie entsprechende Wohnrechte zu deren Gunsten im Grundbuch …“

Gisela warf ihm einen genervten Blick zu. „Junger Mann, ich habe mein Leben in der Immobilienbranche gearbeitet. Das ist mir alles bekannt. Mein Stiefsohn wird über diese Immobilien verfügen und ich zweifle nicht daran, dass er für seinen Sohn und seine Ehefrau, sollte Mona das dann noch sein, angemessen sorgen wird.“

Da der Anwalt nicht gleich darauf antwortete, schoss sie nach: „Haben Sie das verstanden?“

Er nickte.