Susanne las die Mail zum zweiten Mal. Was für ein hanebüchener Unsinn! Ein Mieter teilte ihr mit, dass er von der im Mietvertrag getroffenen Indexvereinbarung zurücktreten wolle. Sie leitete das Schreiben mit den Worten: „das möchten wohl viele ;-)“ an ihre Assistentin weiter, als das Telefon läutete.
„Rieger.“
„Hier Sekretariat Doktor Hoch. Könnten Sie bitte zu Herrn Doktor Hoch kommen?“, zirpte eine ihr unbekannte Stimme.
„Jetzt gleich?“, fragte Susanne. Es war ziemlich ungewöhnlich, dass der Geschäftsführer sie einfach rufen ließ. Bisher hatte er stets selbst angerufen.
„Haben Sie etwas Besseres vor?“, zirpte die Stimme.
Dumme Ziege.
Susanne warf erst das Mobiltelefon auf den Tisch, dann einen Blick in den Spiegel. Sie zog den Lippenstift nach, fuhr mit der Bürste durchs Haar und machte sich auf den Weg in die Chefetage. Seit dem Total-Umbau der Geschäftsleitung thronte die im gläsern ausgebauten Dachgeschoss.
Die unbekannte Stimme gehörte offenbar zu einer großen Blondine und ersuchte sie, im Wartebereich Platz zu nehmen. Seufzend ließ Susanne sich in den tiefen Fauteuil sinken. Unerhört. Erst zitierte man sie von jetzt auf gleich hierher, und nun musste sie auch noch warten – sie war doch nicht Lieschen Müller!
Sie ließ ihren Blick durch den Raum gleiten. Alles wirkte sehr modern, sehr kühl. Dennoch würden sie es im Sommer hübsch warm hier haben, dachte sie grimmig, während sie ungeduldig mit ihren schön lackierten Fingernägeln auf die Armlehne trommelte. Es hatte sich so viel verändert, seit Peter, ihr ehemaliger Chef, dumm genug gewesen war, sein ansehnliches Aktienpaket an einen international tätigen Baulöwen zu verkaufen. Seither war kein Stein auf dem anderen geblieben. Die neue Geschäftsleitung hatte nicht lange gefackelt und innerhalb weniger Wochen nahezu alle strategisch wichtigen Positionen neu besetzt. Die Neuen waren alle jung und bestens ausgebildet, aber sie erschienen ihr aalglatt und die Sache mit den guten Manieren hielten sie wohl auch für überholt. Es wurde wirklich Zeit, dass sie sich nach einer neuen Herausforderung umsah. Aber erst musste sie noch …
„Frau Rieger, wenn Sie jetzt bitte mitkommen“, sagte die Blondine und eilte auf sehr hohen Absätzen vor Susanne den Gang entlang.
„Danke, ich kenne den Weg“, versuchte sie sich ihrer Begleitung zu entledigen. Doch das junge Ding reagierte nicht und öffnete die Tür zum Besprechungszimmer.
Dort warteten nicht nur Doktor Hoch, der neue Geschäftsführer, sondern auch zwei Herren aus dem Verwaltungsrat. Was war denn hier los?
Früher hätte man erst ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht, doch Doktor Hoch kam gleich zur Sache.
„Wie Sie wissen, wollen wir uns von einem Teil des inländischen Portfolios trennen. Es ist uns nun gelungen, ein sehr attraktives Angebot für das bisher von Ihnen betreute Portfolio zu erhalten.“
Bisher also, aha. Sie hatte damit gerechnet, dass man sich eines Tages auch ihrer Person entledigen würde. Dass es so schnell ging, hätte sie allerdings nicht gedacht.
Demonstrativ verschränkte sie die Arme, lehnte sich zurück und wartete. Einer der Verwaltungsräte ergriff das Wort: „Der Kaufvertrag wurde heute Vormittag unterschrieben. Der neue Eigentümer wird die Verwaltung zum nächsten Monatsersten übernehmen. Veranlassen Sie bitte, dass sämtliche Unterlagen bis dahin übergeben werden. Sobald die Übergabe erledigt ist, sind Sie freigestellt.“
Ihr Ton war kühl und beherrscht, als sie antwortete: „Sie scheinen übersehen zu haben, dass ich nicht nur ein Portfolio betreue, sondern auch Head of Asset-Management bin.“
Jetzt meldete sich wieder Doktor Hoch zu Wort: „Die Abteilungen unterstehen in Zukunft direkt der Geschäftsleitung. Ihre Position wird eingespart.“
„Und was passiert mit meiner Assistentin, Frau Wagner?“
„Frau Wagner?“ Darüber schien er sich noch keine Gedanken gemacht zu haben, denn er zögerte kurz, ehe er antwortete: „Ich denke, wir haben keine weitere Verwendung für sie. Wollen Sie es ihr sagen, oder soll unsere Personal-Abteilung …“
Susanne war bereits aufgestanden.
„Danke, das erledige ich selbst.“
Sie hätte jetzt gerne die Tür hinter sich zugeworfen, aber der blöde Türschließer ließ sie sanft ins Schloss gleiten.
*
Susanne hatte es sich in all den Jahren angewöhnt, Unangenehmes immer sofort zu erledigen – das war Teil ihres Erfolges gewesen. Davon würde sie auch jetzt nicht abgehen. Sie drückte den Knopf der Gegensprechanlage: „Frau Wagner, den Kognak und zwei Gläser bitte.“
Ihre Assistentin erschien wenig später mit einem Silbertablett, auf dem eine Kristallkaraffe und zwei Kognakschwenker vor sich hin klapperten. Sie erschien Susanne ziemlich blass, als sie fragte: „Ist etwas passiert?“
Susanne nahm ihr das Tablett aus den zitternden Händen und schenkte ein. Dann drückte sie Helga Wagner ein Glas in die Hand: „Auf die Zukunft, meine Liebe! Wir beide sind gefeuert.“
Um ein Haar hätte ihre Assistentin den Kognakschwenker fallen lassen.
„Aber, das … das geht doch nicht“, stotterte sie.
„Und wie das geht. Man hat unser gesamtes Portfolio verkauft und Abteilungsleitung braucht man auch keine mehr. Prost!“
Susanne leerte das Glas in einem Zug, dann stellte sie es auf das Tablett zurück und spürte, wie sich langsam ein wohliges Gefühl in ihr ausbreitete. Alkohol war zwar keine Lösung, aber manchmal tat er eben verdammt gut.
Helga Wagner nippte mehrfach an ihrem Glas, ehe sie sagte: „Das ist ja eine Katstrophe!“
Susanne wusste, dass ihre Assistentin seit wenigen Monaten von ihrem Mann getrennt lebte. Als Alleinerzieherin mit Kind würde es nicht einfach für sie werden, einen adäquaten Posten zu finden. Dennoch sagte sie mit mehr Optimismus, als sie empfand: „Seien Sie unbesorgt, Sie sind ja noch jung, und ich werde Ihnen ein super Zeugnis schreiben. Die gute Nachricht ist, dass wir, sobald alle Unterlagen übergeben sind, freigestellt werden. Heute ist der Fünfzehnte. Die Kündigung wird zum Monatsletzten wirksam, dann drei Monate Kündigungszeit, die müssen jedenfalls bezahlt werden. Wie lange sind Sie schon bei uns?“
Sie sagte immer noch uns. Es würde wohl eine Zeit dauern, bis sie IMMO mit WERT nicht mehr als ihre Firma betrachten würde.
„Fünf Jahre“, antwortete Helga Wagner seufzend.
„Das ist gut, dann kommt noch eine Abfertigung in Höhe von drei Monatsgehältern dazu.“
Ihre Assistentin war immer noch ziemlich blass um die Nase. Susanne sah auf die Uhr. Wie hell es draußen noch war, dabei war es schon sechzehn Uhr vorbei, langsam wurde es Frühling.
„Kommen Sie, trinken Sie noch einen Schluck, dann lassen wir’s für heute gut sein. Morgen beginnen wir mit der Zusammenstellung der Unterlagen – und dann nichts wie weg hier.“
Sie sehnte sich plötzlich nach ihrem Nest, wie sie ihre noble Dachgeschoss-Wohnung nannte. Sie würde sich eine ordentliche Minestrone kochen – ihre Trostsuppe. Nichts war nach einem Tag wie diesem tröstlicher als eine warme Suppe. Sie hatte verschiedene Varianten auf Lager, je nachdem, wie sie sich fühlte. Heute würde sie sich die deftig-feurige gönnen, mit ein wenig Schinkenspeck, viel Pasta und einem Hauch von Chili.