Wiener Schnitzel
Schwarzer Freitag, dachte Thessa, während sie nervös nach ihrem Autoschlüssel kramte. Erst hatte ein Klient sie stundenlang mit Steuerfragen
genervt, dann hatte sie sich ein Strafmandat eingehandelt und nun war sie auf dem Weg ins Spital – vorausgesetzt der Autoschlüssel fand
sich bei Gelegenheit -, weil ihr Liebster, Michael, sich beim Badminton die Achilles-Sehne gerissen hatte.
Ihr armer Held! Dabei war er doch nur für den Freund ihres Sohnes eingesprungen, der wieder einmal abgesagt hatte. Aber vermutlich hatte
ihn dann doch der Ehrgeiz gepackt, so wie neulich, auf dem Tennisplatz, da hatten die beiden sich auch nichts geschenkt. Männer sind schon eigenartige
Wesen. Durchaus liebenswert, aber irgendwie unverständlich. Als sie endlich in der Tiefgarage des kleinen Privatspitals nach einem
Parkplatz Ausschau hielt, fiel ihr ein dunkler Mercedes mit dem Kennzeichen „NERV 1“ auf. Ihr zukünftiger Schwiegervater war also auch
schon da, hoffentlich alleine. Doch schon als sie, nach der Zimmernummer suchend, den Gang entlangeilte, hörte sie die Stimme von Michaels Mutter. Auch das noch!
Der schrille Ton war stets ein Hinweis darauf, dass Vera sich ärgerte. Die Tür zum Krankenzimmer stand offen und Vera war gerade dabei,
ihrem Sohn die Kissen aufzuschütteln, während eine junge Krankenschwester etwas hilflos daneben stand. Ihr Schwiegervater saß etwas
abseits und beobachtete die Szene aus sicherer Entfernung. „Thessa, mein Mäuselchen!“, rief Michael. „Endlich ein Lichtblick!“
Nun hatte auch Vera sie bemerkt, allerdings schien sie deutlich weniger begeistert. Dafür lächelte ihr Schwiegervater ihr freundlich entgegen
und erhob sich, um ihr Platz anzubieten. „Es wird in diesem Haus doch wohl noch ein paar Sessel geben“,
keifte Vera in Richtung Krankenschwester, die sich augenblicklich auf die Suche machte.
„Mutter, bitte, das ist ein Spital, kein Hotel, und die Dame ist Krankenschwester, kein Zimmermädchen“, erläuterte Michael genervt.
„Ein Privatspital“, ergänzte seine Mutter. „Und für die Hotelkomponente zahlst du monatlich gerade genug.“
„Seit wann kümmerst du dich um Versicherungsprämien?“ Das Eintreten eines Krankenpflegers, der zwei Sessel brachte, beendete den kleinen Disput.
„Wo ist Nicky?“, wollte Thessa wissen. „In der Zwischenzeit daheim, vermute ich. Er hat mir zwar heroisch angeboten, mit dem Krankenwagen mitzufahren, war aber sichtlich
erleichtert, als ich gesagt habe, dass ich schon zurechtkäme.“ Das konnte sie sich gut vorstellen, seit seiner Mandeloperation hasste Nicky Krankenhäuser.
Während sie Michaels Toilettensachen auspackte, keifte Vera: „Warum musstest du auch Badminton spielen?“ Es war ihr anzuhören, dass sie das für äußerst verwerflich hielt und
Thessa erwog schon eine gepfefferte Antwort, doch Michaels Vater rettete die Situation, indem er fragte, wann die OP denn nun stattfände.
„Morgen Vormittag, sobald der Professor im Haus ist.“ „Dann lassen wir euch jetzt alleine und kommen morgen Abend wieder.“ Damit war die Sache entschieden –
und Thessa endlich mit Michael allein.
Die Operation verlief zum Glück ohne Komplikationen und schon am Montag konnte Thessa Michael aus dem Spital holen. Er trug eine bis
zum Knie reichende Schiene, mit der er sich zwar auf zwei Krücken fortbewegen konnte, doch man hatte ihm dringend geraten, sich in den
nächsten Tagen zu schonen. „Unter diesen Umständen wirst du mich morgen bei Doktor Nestelbach vertreten müssen“, sagte er auf dem Heimweg.
„Das ist doch dieser arrogante Blaublütler, der Judith seit Wochen das Leben schwer macht? Könnt’ ihr den Termin nicht verschieben?“
Michael hatte vor wenigen Monaten Judiths Kanzlei gekauft, offiziell handelte es sich um eine Fusion, und Nestelbach war Kunde
ihrer Kanzlei. Thessa hatte zwar in den letzten Monaten gelernt, dass man Judiths Aussagen nur bedingt Glauben schenken konnte, aber
die Erzählungen über diesen Nestelbach schienen ihr ziemlich glaubwürdig. Mochte ja sein, dass Judith etwas übertrieben hatte, übermäßige
Detailtreue war ohnehin nicht ihre Art, aber wenn nur die Hälfte stimmte …
„Verschieben? Auf keinen Fall“, unterbrach Michael ihre Überlegungen. „Bei unserem letzten Telefonat war er wild entschlossen, den Verwaltungsvertrag
aufzukündigen. Wir müssen ihm unbedingt beweisen, dass wir die Sache im Griff haben.“
Thessa, die seit fast zwei Jahren in Michaels Hausverwaltungskanzlei
arbeitete, gab sich geschlagen. Schließlich wusste sie, dass Nestelbach einige ziemlich ertragreiche Zinshäuser besaß.
„Also gut“, seufzte sie. „Du findest die Unterlagen auf meinem Schreibtisch, links oben, hübsch geordnet in einer Mappe.“
„Ja, sicher. Deine Unterlagen sind schließlich immer hübsch geordnet
– ganz im Gegensatz zu meinen.“ „Richtig, ich habe eben System.“ Das musste ja kommen! „Ich etwa nicht?“
„Zumindest sieht man’s deinem Schreibtisch nicht an.“ Das mochte ja sein, aber sie fand sich in ihrem Chaos doch gut
zurecht, also konnte er sich solche Hinweise eigentlich sparen. Doch gerade, als sie zu einer heftigen Erwiderung ansetzen wollte,
sagte er schmeichelnd: „Wie dem auch sei, ich bin sicher, Nestelbachwird deinem Charme ebenso wenig widerstehen können wie ich.“
„Schleimer“, war alles, was sie dazu sagte.
Thessa lag die Besprechung dennoch im Magen. Auch ihre Intimfeindin Judith schien von der Idee, den Termin ohne Michael wahrzunehmen,
nicht sonderlich begeistert. „Also ich weiß nicht, Graf Nestelbach ist ein sehr konservativer
Mann. Wie ich ihn kenne, hätte er viel lieber mit Michael gesprochen. Er hat auch früher ausschließlich mit meinem Ex-Mann verhandelt.“
Daraus kann man ihm kaum einen Vorwurf machen, dachte Thessa grimmig. Judiths Ex-Mann mochte ein Schürzenjäger sein, aber er war
in der Branche als exzellenter Fachmann bekannt. Ganz im Gegensatz zu Judith, die seit Beginn ihrer Zusammenarbeit mehr als ein Beispiel
ihrer reichlich dürftigen Kenntnisse geliefert hatte. Anderseits war gerade ihr fehlendes Fachwissen der Grund für die Fusion gewesen – also
konnte man es ihr kaum vorwerfen. Vorzuwerfen war ihr allerdings, dass sie sich den Kunden gegenüber neuerdings als Hausverwalterin
aufspielte – und davon war sie so weit entfernt wie die Erde vom Mond oder Thessa von einer Modelkarriere – obwohl es ja zunehmend auch
Molly-Models gab. Laut sagte Thessa: „Michael meint, alles wäre besser, als den Termin abzusagen. Wer fährt?“
Judith zuckte elegant die Schultern. Dennoch war ihr anzusehen, dass sie von diesem Arrangement nur wenig begeistert war.